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Sonntag, 9. November 2014

Selbst wenn.


Ich wäre ihm kein Freund gewesen, wenn ich ihn jetzt hier liegen und einfach sterben lasse. Aber ich habe keine Wahl. Wenn ich sie hätte, würde ich bleiben. Ich würde ein Gebet sprechen, ihn beerdigen. Ein Kreuz aufstellen. Aber ich weiß dass es nicht geht. Und er würde es auch wissen. Dass ich keine Zeit habe. Ich knie mich vor ihm hin, sehe seinen verwesenden Körper, unschuldig und gebrechlich auf dem Boden liegen. Die Krankheit hat Narben hinterlassen. Seine Haut ist gelblich, an manchen Stellen blau und grün, er hat Beulen und Geschwüre im Gesicht. Mit zwei Fingern schließe ich seine Augen und küsse ihn auf die Stirn. Ich hoffe er verzeiht mir. Ich hoffe es so sehr.  
Ich stehe auf und hänge mir meine Tasche um. Tränen fließen über mein Gesicht. Ich stolpere blind und fange an zu laufen. Entfernt höre ich sie kommen. Sie werden bald hier sein, auf seine Leiche hinab sehen und ihn verbrennen. Ich versuche schneller zu werden, wische mir mit meiner erdigen Hand über die Augen. Wenn sie mich finden, bin ich tot. Ein besseres Ende kann ich nicht erwarten. Ich habe keinen Diebstahl begangen, keine wehrlosen Kinder misshandelt. Dafür wäre ich in den Kerker gekommen. Nein. Aus der Sicht der Leute, die mich suchen, bin ich ein Dämon, eine Hexe, ein einziger Verstoß gegen das kirchliche Gesetzt, die Bibel. Ich werde verbrannt oder ertränkt.

Ich erreiche den Wald, hier werde ich mich verstecken können. Vor den Menschen, die mich suchen und töten wollen, für etwas, was ich nicht bin.

Die Sonne nähert sich immer mehr dem Horizont. Seit Stunden sitze ich auf einem Ast und warte auf weitere Geräusche, die meine Verfolger verursachen. In der Abenddämmerung muss ich hier weg, sie werden mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet in der Dunkelheit nach mir suchen. Die Schatten Der Bäume und Büsche werden länger, die Blätter schimmern golden und immer mehr Tiere wagen sich aus ihren Verstecken. Ich sehe ein letztes Mal zu der Stelle zurück wo ich ihn zurück gelassen habe. In der Ferne steigen Rauchschwaden in den Himmel empor. Ich schließe die Augen und denke an den Jungen zurück, den ich kennengelernt habe, gesund, fröhlich, voller Hoffnung auf eine bessere Welt. Ich will ihn nicht krank in Erinnerung behalten. Nicht, wenn ich an ihn denke, den von der Krankheit befallendem Körper vor Augen haben. Stattdessen sehe ich einen großen Jungen, mit dichtem  Haar, blaugrauen Augen und gerader Nase. Er hat lumpige Kleidung an, genau wie ich, welche früher einmal ordentlich und gepflegt war. Seine Haut ist dreckig und wenn er lacht, bekommt er Grübchen in den Mundwinkeln. Er hat einen schiefen Zahn. Genauso und nicht anders . Ich öffne die Augen und klettere vorsichtig den Baum herunter. Mit einem letzten Blick zurück laufe ich los, immer im Schutz der Dunkelheit. Ich liebe dich, Jeremiah.

Ich höre die Schreie der Menschen, die durch den Wald laufen und nach einem Monster suchen, das es gar nicht gibt. Ich laufe schneller und atme die vertrauten Gerüche ein: Kiefer, Gras, brennendes Feuerholz. Ich glaube Stimmen zu hören, die strenge, laute meiner Mutter, die freundliche, liebenswürdige meines Vaters, die schrillen Stimmen meiner Schwestern und die sanfte Stimme Jeremiah's…
Plötzlich ist es still. Totenstill, als würde der Wald den Atem anhalten. Ich höre die Stimmen der Menschen nicht mehr, ich höre gar nichts. Langsam bekomme ich Angst. Keuchend bleibe ich stehen und ringe nach Atem. Ich darf das nicht. Stehenbleiben. Ich muss weiter. Ich zwinge mich,  einen Fuß nach dem anderen. Das plötzliche Knacken eines Astes ist nicht zu überhören. Das war kein Tier, da bin ich mir sicher. Blitzschnell drehe ich mich um, bereit wegzurennen.  Aus dem tiefen Schatten zweier Bäume löst sich eine Gestalt, mittelgroß und breit gebaut. Mehr kann ich in dem Licht nicht erkennen. Ich sehe gelbliche Zähne aufblitzen, solche, wie fast jeder hier sie hat. Die Person kommt näher, ich dagegen weiche zurück. Ich versuche zu erkennen, ob dieser jemand eine Waffe in der Hand hält, vergebens. So stehen wir da, sehen  uns einfach nur stumm an, ich wiege meine Chancen ab. Ich bin schnell. Ich muss ihn ablenken, dann ist die Überraschung auf meiner Seite. Ich konzentriere mich, als er anfängt zu sprechen. ,, Wohin willst du ?“ ,,Ich hätte wissen müssen das du es bist. Deinen Gestank rieche ich bis hier“, antworte ich zischend. ,, Wie immer nett und höflich, was ? Nur das dir das in deiner Position nicht gerade hilfreich ist.“ ,,Was willst du, Will ?“ ,, Nichts, was du mir freiwillig geben würdest. Dir ist hoffentlich klar, dass mich jeder in diesem Wald hören kann wenn ich schreie. Ich könnte so tun, als hättest du mich verhext. Ein bisschen Schaum im Mund und verdrehte Augen, und schon liegst du gefesselt am Grund des Sees. Dabei wissen wir ja beide, dass du es nicht bist. Wo ist dein lächerlicher kleiner Freund? ‘‘ „ Verpiss dich ‘‘.  ,, Ich seh schon. Du willst nicht mit mir reden. Nun gut. Weißt du, ich frage mich die ganze Zeit, wieso er und nicht ich?

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