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Sonntag, 5. Februar 2017

Geschwisterliebe.


26.11.1983

„Gib das sofort zurück!“, brülle ich. Das Kleid, was mir Mommy am vierten Juli geschenkt hatte, hält Livi verdreckt und klatschnass in der Hand. Am Kragen hat es schon ein Loch. Grinsend hebt sie es ein Stück höher, und fuchtelt damit vor meiner Nase herum, doch sobald ich danach greifen will, hält sie es hoch über meinen Kopf. Je höher ich springe, desto weiter scheint es weg.
„Wenn Mommy das erfährt, bekommst du ganz doll Ärger! Und deine neuen Tanzschuhe bekommst du ganz bestimmt auch nicht!“ Wütend und mit bebender Unterlippe stampfe ich auf den Boden auf, verschränke die Arme vor meinem Oberkörper.
„Aber die kleine süße Laure wird doch nicht petzen, nicht wahr?“ Zufrieden lächelt sie, fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe und setzt einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf.
„Was können wir tun, damit der kleine Giftpilz seine Klappe hält?“ Ich will mich umdrehen und laufen, doch sie packt mich am Arm und zieht mich zu ihr.
„Du kleines Miststück, wage es bloß nicht. Und jetzt, ein Wort, und ich schwöre dir, du wirst die Reste von deinem blöden Kleid morgen verbrannt und in Form von Asche auf deinem Bett vorfinden!“  Wütend funkelt sie mich an.
Dann wirbelt sie herum und zieht mich am Ärmel hinter sich her, durch den Wald, der mit jedem Schritt dunkler und finsterer wird. Ich stolpere hinter ihr her und sehe kaum etwas, weil ich weinen muss. Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter und in den Mund, und ich kann das Salz schmecken. Sie tropfen von meinem Kinn auf das ergraute Hemd.
Mommy würde schimpfen wenn sie mich so sieht. Ich blinzle und kriege Schluckauf. Livi geht immer weiter geradeaus, rennt fast. Ich brauche vier Schritte für einen von ihren.
Langsam wird es kälter, der Wind ist eiskalt. „Wohin gehen wir Livi?“ Ich hickse. „Sei still.“ Sie wirft einen Blick zurück, sieht mich für eine Sekunde böse an.
Ihre Augen sind ganz dunkel, fast schwarz. Die Bäume knarzen, und der Wind bewegt die Äste so stark, dass es so aussieht als würde der Wald seine Fänge nach uns ausstrecken.
Ich habe Angst.
Dann werden die Bäume plötzlich weniger und dichter, wabernder Nebel kriecht über den Boden. Die Geräusche verstummen und wir stehen am Rand eines Ufers.
Der Nebel kommt vom See. Man kann kaum ein paar Meter sehen, selbst der Himmel scheint dumpf und grau. Es ist so still. Da ist kein Vogel mehr, da ist nichts. Das Wasser ist spiegelglatt, keine Bewegung ist an der Oberfläche zu erkennen.
Schniefend sehe ich mich um. Die Böschung ist nicht groß, aber da ist ein schmaler Steg, der mitten in den See hineinführt. Am Ende treiben zwei Boote, die ganz alt aussehen. Was um Himmels Willen will Livi denn hier? Sie ist stehen geblieben, starrt mit gerunzelter Stirn hinaus auf den See, als würde sie irgendwas sehen, was ich nicht erkennen kann.
Unsicher sehe ich sie an. Sie hat meinen Ärmel losgelassen, ihr Blick ist leer und abweisend. Ich bin schnell, ich kann zurück rennen, den ganzen Weg durch den dunklen Wald. So weit ist es nicht. Leise mache ich einen Schritt zurück, doch da fährt sie herum, ihr Blick ist so wild.
Das ist nicht Livi, denke ich mir, das ist sie nicht. Aber wer ist sie dann?
Mit einem Wutschrei greift sie nach meinem Kragen. Die Wucht dieses Zugs reißt mich von den Füßen, ich falle auf die Knie und sofort fange ich an zu schreien. Der Boden ist voller Steine. Doch sie achtet nicht darauf, ignoriert mein Schreien und geht auf den Steg zu.
Sie schleift mich über den Boden, packt mit der anderen Hand meine Haare, und ich brülle auf. Es tut so weh, wie kann sie nur?
Das Brennen meiner Knie wird stärker als wir den Steg erreichen und sie zerrt mich über die alten Holzbretter, die unter jedem Schritt ächzen, so, als würden sie gleich zusammenbrechen.
Mein Schreien ist wie ein Echo und ich rufe nach Mommy und Daddy, warum helfen sie mir denn nicht? Verschwommen und voller Schmerz kann ich das Ende des Stegs erkennen.
Livi stoppt und drückt mich mit dem Gesicht nach unten auf die Bretter. Durch die großen Ritzen kann ich das Wasser erkennen. Wie eine feste Oberfläche.
Keine Regung, und so dunkel, als wäre es Stein.
Heulend und schluchzend strample ich mit den Beinen als sie sich an meinem Gürtel zu schaffen macht, beginnt, ihn langsam aus den Schlaufen herauszuziehen.
„Ich hab es so satt, Laurel, so satt. Ich habe versucht dich zu ignorieren, dich wenigstens gefügig zu machen, doch warum wehrst du dich? Du verdienst es nicht anders, du kleine Schlampe.“ Ich versuche den Kopf zu heben, doch sie schlägt mich mit voller Wucht, mir bleibt die Luft weg.
Schnaufend hält sie meine Arme fest, kniet sich auf meinen Oberkörper während sie meine Beine mit dem Gürtel festschnürt.
Ich kann nicht mehr und trete unkontrolliert in die Luft. Sie steht auf, dreht mich zur Seite und rammt mir ihren Fuß in den Bauch. Mein Schreien verwandelt sich in Husten, und ich nehme nichts mehr wahr, außer das Beben des Steges als sie sich entfernt.
Ich kann meine Arme nicht bewegen, bekomme keine Luft, oh Mommy, es tut so weh. Meine Arme sind so schwer. Blinzelnd versuche ich meine Augen offen zu halten, und ich merke wie die Ränder meines Sichtfeldes auf mich zukommen.
Dann fange ich an zu schreien, so laut ich kann. Mich wird niemand hören. Aus dem Nebel kommt eine schemenhafte Gestalt. Es ist Livi. „Du Miststück. Schmorr in der Hölle.“
Sie hört sich so dumpf an, so leise. Ihr Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht, ihre Haut ist kalkweiß. Und ihre Augen schwarz wie Pech.
Mit einem Wutschrei packt sie mich an den Schultern und hebt mich hoch. Und als ich falle, bilde ich mir ein, die Stimmen meiner Eltern meinen Namen schreien zu hören.
Und dann ist da nur noch Kälte und ein bodenloses Nichts, so dumpf wie der Nebel, so schwarz wie Livi’s Augen und so erdrückend, dass ich einatme und Wasser in meine Lungen strömt.

Noch am selben Abend haben sie meine Schwester in eine Anstalt gebracht, sobald klar war, dass ich überleben würde. Das Krankenhaus habe ich nach einer Woche verlassen, und seitdem nicht geschlafen.
Jede Nacht habe ich in ihrem Bett verbracht, eingemummelt zwischen ihren warmen Körpern und getröstet von leisem Schnarchen.
In der ersten Nacht verfolgten mich Albträume und Krämpfe, hielten mich wach, einschlafen konnte ich nicht.
In der zweiten Nacht lag ich erstarrt, die Augen weit aufgerissen.
In der dritten erlaubte ich mir zu schlafen.
Am Morgen erwachte ich in ihrem Blut, das auf meiner Haut getrocknet war, und sich in meiner Kleidung festgesogen hatte.
Die fleischigen, offenen Kehlen grinsten mich an als wären es lachende Münder. Der Geruch und die Fliegen verteilten sich im Haus.
Gegen Mittag saß ich in der Ecke, wippte vor und zurück, hielt Mommy‘s Hand, die vom Bett herunter hing. Sie war eiskalt.
Die Augen ließ ich zu. Die Anstalt rief an, es nahm keiner ab. Sie sprachen auf Band, und die Stimme erfüllte das totenstille Haus.
Olivia, das Mädchen, das ihre Schwester beinahe umgebracht hätte, sei weg. Ich umklammerte die Hand fester.
Und sie drückte zurück.

Donnerstag, 2. Februar 2017

Euer Tod ist mir ein Anliegen, euer Tod für mein Vergnügen.

Und ich warte. Drücke die Knöpfe, starre in die Dunkelheit und die Wolken ziehen vorbei. Und ich warte. Befestige die Schnüre, beobachte den Regen, und die Wolken lichten sich. Und ich warte. Zähle bis Drei, lasse sie los, wische mir den Schweiß von der Stirn und die Wolken sind weg. Und unter mir liegt die Stadt, noch ist sie ruhig, noch am Leben. Häuser um Häuser, Häuser und Gärten und Kirchen und Straßen. Und wie Ameisen versuchen sie nun zu fliehen, verkriechen sich in Löcher und Winkel und in die kleinsten Ecken und ihre Schreie sind stumm. Vielleicht verzerrt, vielleicht angsterfüllt, aber für mich sind sie stumm. Und ich fliege, fliege über all das Leid, all die Angst und all die Trauer. Und als sie ankommt, als sie landet, als sie endlich ihr Ziel erreicht, da verschwinden die Häuser, die Häuser und Gärten und Kirchen und Straßen, verschwinden im Dreck, in Schutt und in Asche, in Zeitlupe stürzen und fallen sie, und ich lache, schreie, umklammere das Steuer und freue mich wie ein Kind. Ein Kind, besessen von all der Lust. Der Lust am Töten, der Lust am Zerstören, an der Trauer und dem Leid. Und ich denke. Das Rathaus, der Marktplatz, die Schule. Getroffen. Die große Brücke, die Bibliothek, das Amt. Getroffen. Der Bahnhof im Norden und der große Saal im Westen. Und ich drehe. Fliege Kurven und Schleifen und fliege durch die Dunkelheit. Und es donnert, es blitzt, und die Nacht wird hell. Das Gewitter ist mein Begleiter, mein Heer, mein Freund im Untergang. Und ich drücke die Knöpfe, befestige die Schnüre, zähle bis Drei und lasse sie los, und ich starre in die Dunkelheit, beobachte den Regen und wische mir den Schweiß von der Stirn, und die Wolken ziehen vorbei, lichten sich und sind weg. Und ich fliege, lächle, blende alles aus, wälze die Häuser nieder, zermalme die Gärten unter meinen Füßen, erdrücke die Kirchen im Hass und mache den Straßen den Erdboden gleich. Und ich fliege in die Nacht, weit und sternenklar und trocken, lasse die Stadt hinter mir. Die Geräusche verstummen, und alles was bleibt, ist die Asche, die Überreste der Menschen und der Stadt, die unter mir wie von einem Windstoß getrieben durch die Luft umherwirbelt und an einen schönen Sommertag erinnert, wo die Pusteblumen am Rande des Feldes standen und Kinder auf der Wiese spielten und die Sonne warm vom Himmel schien.

Des Dichters Denken.

Und sie reden. Von mir, mit mir, erzählen mir Dinge über die Stadt und den Vortrag, für den sie sich größte Mühe gegeben haben. Und sie behandeln mich wie ein Ausstellungsstück, eine Kostbarkeit, eine neue Attraktion ihrer Stadt, gekommen, um Hoffnung und Trost zu spenden. Heuchler und Idioten, das sind sie, das sind wir alle. Dieses Land, das Land der Dichter und Denker, ist nicht mehr das, was es einmal war. Trüb, kalt, leer und voller Zweifel. Trümmer und Ruinen und Krankheit und Tod, das ist, was übrigbleibt, das ist, was der Krieg zeugt. Und das ist, was sie sind, die Überreste, die Ruinen Deutschlands. Wie kann ich über Unvergänglichkeit philosophieren, wenn ich selbst an mir und meiner Sterblichkeit zweifle? Alt bin ich geworden, alt und müde und allein. Und kann ich diese Menschen, die von Tod, Trauer und Verlust gezeichnet sind, die dem Ende gerade so entkommen sind, retten? War der Fall zu tief, der Sturz zu hart, der Bruch zu markant, um diesen Menschen zu helfen? Kann ich mit meiner, ja irgendwie bedeutungslosen Botschaft, die das Leid nicht lindert, die Wunden nicht heilt und die Narben nicht verblassen lässt, den Menschen das Versprechen, was sie verdienen? Denn wenn ich verspreche, was ich nicht halten kann, wenn ich auf das Abendland schwöre und es breche, dann bin ich es auch. Krank, vergiftet, erstickt an all der Asche und ausgelöscht durch die Bomben der Vergangenheit. Ein Heuchler. Und für meine Taten muss ich büßen, dieses Auto wird mein Sarg sein, diese Stadt mein Grab und Deutschland mein Friedhof.

Der Schöne Schein: Kleider machen das Heute.


Mit gesenktem Kopf laufen wir durch die Straßen, mit schlurfendem Gang und einer Trostlosigkeit, die uns mit jedem Schritt begleitet. Unachtsam sind wir geworden, egoistisch, engstirnig und dickköpfig. Die Welt zieht an uns vorbei, verändert sich im Sekundentakt, wächst und stirbt und beginnt und vergeht. Und doch haben wir uns im Laufe der Jahre verändert, haben eine Mauer um uns errichtet, in der Hoffnung, dass niemand uns wirklich erkennt und in dem Wissen, dass wir für sie niemals das sein werden, was sie wirklich wollen. Denn was wollen sie? Das Tiefste unserer Seele, unsere verborgenen Gedanken und die sorgfältig verdeckte Ehrlichkeit, versteckt unter dem Schutz der Masse? Wollen sie unsere Meinung, unsere Fähigkeiten, Talente und Schwächen? Denn wenn wir sind was wir sind, wenn wir zugeben, dass auch wir mit unserer Meinung mal alleine und unsere Schwächen unsere größten Ängste sind, wenn wir zugeben, dass wir nicht perfekt sind. Dann sind wir angreifbar, und unser Schutz, unser Ich, wir selbst, das war und ist und wird immer das Wichtigste bleiben, was wir haben. Wir gehen tagtäglich durch diese Straßen, die sich wie feine Adern durch die oft viel zu großen Städte ziehen, begegnen Menschen, deren Gesichter wir bereits nach ein paar Metern vergessen und ignorieren die Dinge, die die Generationen vor uns als Pflicht und Würde anerkannt haben: die Menschlichkeit in uns. Vorurteile haben uns nach den Vorstellungen unserer Gesellschaft geformt, die Menschen uns nach ihrer Meinung zu recht gebogen. Und was bleibt? Ein Strom aus ausdruckslosen Gesichtern, starren Blicken, die Schauer über unsere Körper und eisige Kälte bis tief in unsere Seelen senden. Würden wir einem Menschen helfen, der vor uns zu Boden fällt, wenn er obdachlos ist, stinkt und schwankt? Würden wir einer Dame, die Kleidung und Parfüm trägt, dessen Preise wir uns nicht einmal erträumen könnten, Geld leihen, wenn sie mal keins hat? Vielleicht, vielleicht sogar mit Sicherheit. Doch was kaum einer von uns bezweifeln kann: Es ist nicht mehr unser Instinkt, es ist nicht mehr unsere Natur, es ist Etwas, wo die meistern erst zögern und nachdenken müssen. Und ist es letztendlich noch Menschlichkeit?