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Donnerstag, 13. April 2017

Auf dass ich herrsche bis zum Tod.

Mein Morgen ist Heute.

Das Puder, dass ich aufgelegt habe, verdeckt meine fleckige Haut, die rote Farbe die eingerissenen Lippen, die Tusche meine müden, kleinen Augen.
Herausgeputzt, wie eine Puppe, stehe ich vor dem Spiegel und betrachte mich.
Man hat mir die Haare zusammengebunden, nun fallen sie weich und nach Lavendel duftend über meinen Nacken und verdecken die aufgekratzten roten Stellen und Schnitte, die ich mir letzte Nacht zugefügt hatte.
Das aufwendig bestickte Kleid, der neusten Mode entsprechend, hat kurze Ärmel, und ist bei diesen kalten Temperaturen absolut unangebracht. Und doch fange ich an zu schwitzen.
Ein letztes Mal streiche ich mir übers Kleid, ein letztes Mal kneife ich mir in die Wangen, ein letztes Mal schiebe ich mir eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Und ich lächle.
Die Tür wird leise geöffnet und sie treten herein, vornehm in Weiß, unschuldig, höflich, mit ausdruckslosen Gesichtern, ihre Blicke gesenkt. Bleib ruhig, sage ich mir.
Und sie bleiben vor mir stehen, halten, warten auf ein Zeichen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Auf ewig meine Diener, sage ich mir.
Und ich greife meine Röcke, schreite durch den Raum, rausche in ihrer Mitte zu Tür, sie sind rechts und links von mir. Nicht nur meine Diener, auch meine Soldaten, meine Wachen, sage ich mir.
Und unsere Schritte hallen durch den Gang, ertönen in der Stille, zerschneiden die Luft, und der Gang wird länger und länger. Und mit jedem Schritt, mit jeder Stufe, mit jedem Echo, wird mein Lächeln breiter, meine Haltung gerader, mein Atem schneller. Sei wie deine Vorfahren, sage ich mir.
Und zu beiden Seiten des Ganges erscheinen Türen, und ich höre sie schreien, ich höre sie schreien und rufen und jubeln. Und sie rufen meinen Namen, pressen ihre Hände gegen das Glas, versuchen dem Gefängnis zu entkommen und sich mir zu offenbaren. Und ich sehe sie, präge sie mir ein, bedanke mich für ihre Aufregung.
Und meine Soldaten werden unruhig, ihre Augen zusammengekniffen, sie suchen nach der Gefahr, einer Bedrohung für mich. Und ich hebe die Hand, und sie hören, erwarten einen Befehl.
Und ich sage nichts, ich blicke gerade aus, biege rechts ab, ich kenne den Weg. Und sie folgen mir.
Und am Ende des Ganges befindet sich eine Tür, hell erleuchtet. Dort befindet sich mein Ziel, dort ist meine Bestimmung, dort ist das Ende.
Und ich werde langsamer, schließe die Augen, atme tief, sehe die Welt ein letztes Mal, bevor ich Königin werde. Und meine Diener, meine Soldaten, meine Wachen, sie berühren mich, umfassen meine Arme, geleiten mich die letzten Meter zum Thron.
Und ich lasse die Augen geschlossen, lasse mich führen, und die Menge fängt an zu schreien, zu schreien und rufen und jubeln, und sie rufen meinen Namen.
Und sie setzen mich, und ich nehme nichts mehr wahr, platziere meine Arme auf der Lehne, atme tief.
Sei wie deine Vorfahren, sage ich mir.
Und sie richten mich, streichen mein Kleid glatt, legen mir Bänder um, Bänder in herrlichen Farben, ich male sie mir aus, in Gold und Rot und Silber, und sie sind kalt an meinen Armen, ziehen sich fester, und ich kann meine Arme nicht mehr bewegen.
Und mit ihren Händen fahren sie von meiner Hüfte bis zu den Füßen, streichen die Schenkel hinunter, befestigen, schnüren die Füße.
Sei wie deine Vorfahren, sage ich mir.
Und sie setzten mir die Krone auf, fest, fester, und es tut weh, sie drückt und zieht und wird immer enger.
Und als ich anfange zu schreien, da reiße ich die Augen auf, starre auf die Männer in den weißen Kitteln, starre auf die langen Spritzen, starre auf die Fesseln meines Stuhls.
Und ich schreie und schreie und starre an die Decke, in den Spiegel, und ich sehe eine Frau mit kränklicher, bleicher und zerkratzter Haut, blutroten Lippen, zerzausten, stumpfen Haaren, und wildem irren Blick, und ihr Kleid, ihr dreckiges Kleid, hängt in Fetzen von ihrem Körper.
Und als sie sich windet, als sie schreit, als die Rufe ihrer Untertanen immer leiser werden, ihre Soldaten, ja ihre Sklaven sie voller Abscheu ansehen, da verliert sie den Verstand.
Sei deinen Sklaven eine Königin, sage ich ihr.

Der Tag, der Tag, auf den ich solange gewartet habe. Meine Krönung, meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft, mein Morgen.
Und ich weiß, ich weiß, wenn ich am Abend im Bett liege, die Augen geschlossen, den Mund zu einem Lächeln verzogen und tiefenentspannt, und mit langsamen Atemzügen in den Schlaf dämmere, dann werde ich vergessen.
Ich werde das Gestern und das Heute vergessen, und das Einzige, was bleibt, ist mein Morgen.
Und mein Morgen wird ewig währen, sich Tag für Tag wiederholen.
Bis an mein Lebensende.
Denn ich herrsche bis zum Tod.

Sonntag, 5. Februar 2017

Geschwisterliebe.


26.11.1983

„Gib das sofort zurück!“, brülle ich. Das Kleid, was mir Mommy am vierten Juli geschenkt hatte, hält Livi verdreckt und klatschnass in der Hand. Am Kragen hat es schon ein Loch. Grinsend hebt sie es ein Stück höher, und fuchtelt damit vor meiner Nase herum, doch sobald ich danach greifen will, hält sie es hoch über meinen Kopf. Je höher ich springe, desto weiter scheint es weg.
„Wenn Mommy das erfährt, bekommst du ganz doll Ärger! Und deine neuen Tanzschuhe bekommst du ganz bestimmt auch nicht!“ Wütend und mit bebender Unterlippe stampfe ich auf den Boden auf, verschränke die Arme vor meinem Oberkörper.
„Aber die kleine süße Laure wird doch nicht petzen, nicht wahr?“ Zufrieden lächelt sie, fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe und setzt einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf.
„Was können wir tun, damit der kleine Giftpilz seine Klappe hält?“ Ich will mich umdrehen und laufen, doch sie packt mich am Arm und zieht mich zu ihr.
„Du kleines Miststück, wage es bloß nicht. Und jetzt, ein Wort, und ich schwöre dir, du wirst die Reste von deinem blöden Kleid morgen verbrannt und in Form von Asche auf deinem Bett vorfinden!“  Wütend funkelt sie mich an.
Dann wirbelt sie herum und zieht mich am Ärmel hinter sich her, durch den Wald, der mit jedem Schritt dunkler und finsterer wird. Ich stolpere hinter ihr her und sehe kaum etwas, weil ich weinen muss. Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter und in den Mund, und ich kann das Salz schmecken. Sie tropfen von meinem Kinn auf das ergraute Hemd.
Mommy würde schimpfen wenn sie mich so sieht. Ich blinzle und kriege Schluckauf. Livi geht immer weiter geradeaus, rennt fast. Ich brauche vier Schritte für einen von ihren.
Langsam wird es kälter, der Wind ist eiskalt. „Wohin gehen wir Livi?“ Ich hickse. „Sei still.“ Sie wirft einen Blick zurück, sieht mich für eine Sekunde böse an.
Ihre Augen sind ganz dunkel, fast schwarz. Die Bäume knarzen, und der Wind bewegt die Äste so stark, dass es so aussieht als würde der Wald seine Fänge nach uns ausstrecken.
Ich habe Angst.
Dann werden die Bäume plötzlich weniger und dichter, wabernder Nebel kriecht über den Boden. Die Geräusche verstummen und wir stehen am Rand eines Ufers.
Der Nebel kommt vom See. Man kann kaum ein paar Meter sehen, selbst der Himmel scheint dumpf und grau. Es ist so still. Da ist kein Vogel mehr, da ist nichts. Das Wasser ist spiegelglatt, keine Bewegung ist an der Oberfläche zu erkennen.
Schniefend sehe ich mich um. Die Böschung ist nicht groß, aber da ist ein schmaler Steg, der mitten in den See hineinführt. Am Ende treiben zwei Boote, die ganz alt aussehen. Was um Himmels Willen will Livi denn hier? Sie ist stehen geblieben, starrt mit gerunzelter Stirn hinaus auf den See, als würde sie irgendwas sehen, was ich nicht erkennen kann.
Unsicher sehe ich sie an. Sie hat meinen Ärmel losgelassen, ihr Blick ist leer und abweisend. Ich bin schnell, ich kann zurück rennen, den ganzen Weg durch den dunklen Wald. So weit ist es nicht. Leise mache ich einen Schritt zurück, doch da fährt sie herum, ihr Blick ist so wild.
Das ist nicht Livi, denke ich mir, das ist sie nicht. Aber wer ist sie dann?
Mit einem Wutschrei greift sie nach meinem Kragen. Die Wucht dieses Zugs reißt mich von den Füßen, ich falle auf die Knie und sofort fange ich an zu schreien. Der Boden ist voller Steine. Doch sie achtet nicht darauf, ignoriert mein Schreien und geht auf den Steg zu.
Sie schleift mich über den Boden, packt mit der anderen Hand meine Haare, und ich brülle auf. Es tut so weh, wie kann sie nur?
Das Brennen meiner Knie wird stärker als wir den Steg erreichen und sie zerrt mich über die alten Holzbretter, die unter jedem Schritt ächzen, so, als würden sie gleich zusammenbrechen.
Mein Schreien ist wie ein Echo und ich rufe nach Mommy und Daddy, warum helfen sie mir denn nicht? Verschwommen und voller Schmerz kann ich das Ende des Stegs erkennen.
Livi stoppt und drückt mich mit dem Gesicht nach unten auf die Bretter. Durch die großen Ritzen kann ich das Wasser erkennen. Wie eine feste Oberfläche.
Keine Regung, und so dunkel, als wäre es Stein.
Heulend und schluchzend strample ich mit den Beinen als sie sich an meinem Gürtel zu schaffen macht, beginnt, ihn langsam aus den Schlaufen herauszuziehen.
„Ich hab es so satt, Laurel, so satt. Ich habe versucht dich zu ignorieren, dich wenigstens gefügig zu machen, doch warum wehrst du dich? Du verdienst es nicht anders, du kleine Schlampe.“ Ich versuche den Kopf zu heben, doch sie schlägt mich mit voller Wucht, mir bleibt die Luft weg.
Schnaufend hält sie meine Arme fest, kniet sich auf meinen Oberkörper während sie meine Beine mit dem Gürtel festschnürt.
Ich kann nicht mehr und trete unkontrolliert in die Luft. Sie steht auf, dreht mich zur Seite und rammt mir ihren Fuß in den Bauch. Mein Schreien verwandelt sich in Husten, und ich nehme nichts mehr wahr, außer das Beben des Steges als sie sich entfernt.
Ich kann meine Arme nicht bewegen, bekomme keine Luft, oh Mommy, es tut so weh. Meine Arme sind so schwer. Blinzelnd versuche ich meine Augen offen zu halten, und ich merke wie die Ränder meines Sichtfeldes auf mich zukommen.
Dann fange ich an zu schreien, so laut ich kann. Mich wird niemand hören. Aus dem Nebel kommt eine schemenhafte Gestalt. Es ist Livi. „Du Miststück. Schmorr in der Hölle.“
Sie hört sich so dumpf an, so leise. Ihr Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht, ihre Haut ist kalkweiß. Und ihre Augen schwarz wie Pech.
Mit einem Wutschrei packt sie mich an den Schultern und hebt mich hoch. Und als ich falle, bilde ich mir ein, die Stimmen meiner Eltern meinen Namen schreien zu hören.
Und dann ist da nur noch Kälte und ein bodenloses Nichts, so dumpf wie der Nebel, so schwarz wie Livi’s Augen und so erdrückend, dass ich einatme und Wasser in meine Lungen strömt.

Noch am selben Abend haben sie meine Schwester in eine Anstalt gebracht, sobald klar war, dass ich überleben würde. Das Krankenhaus habe ich nach einer Woche verlassen, und seitdem nicht geschlafen.
Jede Nacht habe ich in ihrem Bett verbracht, eingemummelt zwischen ihren warmen Körpern und getröstet von leisem Schnarchen.
In der ersten Nacht verfolgten mich Albträume und Krämpfe, hielten mich wach, einschlafen konnte ich nicht.
In der zweiten Nacht lag ich erstarrt, die Augen weit aufgerissen.
In der dritten erlaubte ich mir zu schlafen.
Am Morgen erwachte ich in ihrem Blut, das auf meiner Haut getrocknet war, und sich in meiner Kleidung festgesogen hatte.
Die fleischigen, offenen Kehlen grinsten mich an als wären es lachende Münder. Der Geruch und die Fliegen verteilten sich im Haus.
Gegen Mittag saß ich in der Ecke, wippte vor und zurück, hielt Mommy‘s Hand, die vom Bett herunter hing. Sie war eiskalt.
Die Augen ließ ich zu. Die Anstalt rief an, es nahm keiner ab. Sie sprachen auf Band, und die Stimme erfüllte das totenstille Haus.
Olivia, das Mädchen, das ihre Schwester beinahe umgebracht hätte, sei weg. Ich umklammerte die Hand fester.
Und sie drückte zurück.

Donnerstag, 2. Februar 2017

Euer Tod ist mir ein Anliegen, euer Tod für mein Vergnügen.

Und ich warte. Drücke die Knöpfe, starre in die Dunkelheit und die Wolken ziehen vorbei. Und ich warte. Befestige die Schnüre, beobachte den Regen, und die Wolken lichten sich. Und ich warte. Zähle bis Drei, lasse sie los, wische mir den Schweiß von der Stirn und die Wolken sind weg. Und unter mir liegt die Stadt, noch ist sie ruhig, noch am Leben. Häuser um Häuser, Häuser und Gärten und Kirchen und Straßen. Und wie Ameisen versuchen sie nun zu fliehen, verkriechen sich in Löcher und Winkel und in die kleinsten Ecken und ihre Schreie sind stumm. Vielleicht verzerrt, vielleicht angsterfüllt, aber für mich sind sie stumm. Und ich fliege, fliege über all das Leid, all die Angst und all die Trauer. Und als sie ankommt, als sie landet, als sie endlich ihr Ziel erreicht, da verschwinden die Häuser, die Häuser und Gärten und Kirchen und Straßen, verschwinden im Dreck, in Schutt und in Asche, in Zeitlupe stürzen und fallen sie, und ich lache, schreie, umklammere das Steuer und freue mich wie ein Kind. Ein Kind, besessen von all der Lust. Der Lust am Töten, der Lust am Zerstören, an der Trauer und dem Leid. Und ich denke. Das Rathaus, der Marktplatz, die Schule. Getroffen. Die große Brücke, die Bibliothek, das Amt. Getroffen. Der Bahnhof im Norden und der große Saal im Westen. Und ich drehe. Fliege Kurven und Schleifen und fliege durch die Dunkelheit. Und es donnert, es blitzt, und die Nacht wird hell. Das Gewitter ist mein Begleiter, mein Heer, mein Freund im Untergang. Und ich drücke die Knöpfe, befestige die Schnüre, zähle bis Drei und lasse sie los, und ich starre in die Dunkelheit, beobachte den Regen und wische mir den Schweiß von der Stirn, und die Wolken ziehen vorbei, lichten sich und sind weg. Und ich fliege, lächle, blende alles aus, wälze die Häuser nieder, zermalme die Gärten unter meinen Füßen, erdrücke die Kirchen im Hass und mache den Straßen den Erdboden gleich. Und ich fliege in die Nacht, weit und sternenklar und trocken, lasse die Stadt hinter mir. Die Geräusche verstummen, und alles was bleibt, ist die Asche, die Überreste der Menschen und der Stadt, die unter mir wie von einem Windstoß getrieben durch die Luft umherwirbelt und an einen schönen Sommertag erinnert, wo die Pusteblumen am Rande des Feldes standen und Kinder auf der Wiese spielten und die Sonne warm vom Himmel schien.

Des Dichters Denken.

Und sie reden. Von mir, mit mir, erzählen mir Dinge über die Stadt und den Vortrag, für den sie sich größte Mühe gegeben haben. Und sie behandeln mich wie ein Ausstellungsstück, eine Kostbarkeit, eine neue Attraktion ihrer Stadt, gekommen, um Hoffnung und Trost zu spenden. Heuchler und Idioten, das sind sie, das sind wir alle. Dieses Land, das Land der Dichter und Denker, ist nicht mehr das, was es einmal war. Trüb, kalt, leer und voller Zweifel. Trümmer und Ruinen und Krankheit und Tod, das ist, was übrigbleibt, das ist, was der Krieg zeugt. Und das ist, was sie sind, die Überreste, die Ruinen Deutschlands. Wie kann ich über Unvergänglichkeit philosophieren, wenn ich selbst an mir und meiner Sterblichkeit zweifle? Alt bin ich geworden, alt und müde und allein. Und kann ich diese Menschen, die von Tod, Trauer und Verlust gezeichnet sind, die dem Ende gerade so entkommen sind, retten? War der Fall zu tief, der Sturz zu hart, der Bruch zu markant, um diesen Menschen zu helfen? Kann ich mit meiner, ja irgendwie bedeutungslosen Botschaft, die das Leid nicht lindert, die Wunden nicht heilt und die Narben nicht verblassen lässt, den Menschen das Versprechen, was sie verdienen? Denn wenn ich verspreche, was ich nicht halten kann, wenn ich auf das Abendland schwöre und es breche, dann bin ich es auch. Krank, vergiftet, erstickt an all der Asche und ausgelöscht durch die Bomben der Vergangenheit. Ein Heuchler. Und für meine Taten muss ich büßen, dieses Auto wird mein Sarg sein, diese Stadt mein Grab und Deutschland mein Friedhof.

Der Schöne Schein: Kleider machen das Heute.


Mit gesenktem Kopf laufen wir durch die Straßen, mit schlurfendem Gang und einer Trostlosigkeit, die uns mit jedem Schritt begleitet. Unachtsam sind wir geworden, egoistisch, engstirnig und dickköpfig. Die Welt zieht an uns vorbei, verändert sich im Sekundentakt, wächst und stirbt und beginnt und vergeht. Und doch haben wir uns im Laufe der Jahre verändert, haben eine Mauer um uns errichtet, in der Hoffnung, dass niemand uns wirklich erkennt und in dem Wissen, dass wir für sie niemals das sein werden, was sie wirklich wollen. Denn was wollen sie? Das Tiefste unserer Seele, unsere verborgenen Gedanken und die sorgfältig verdeckte Ehrlichkeit, versteckt unter dem Schutz der Masse? Wollen sie unsere Meinung, unsere Fähigkeiten, Talente und Schwächen? Denn wenn wir sind was wir sind, wenn wir zugeben, dass auch wir mit unserer Meinung mal alleine und unsere Schwächen unsere größten Ängste sind, wenn wir zugeben, dass wir nicht perfekt sind. Dann sind wir angreifbar, und unser Schutz, unser Ich, wir selbst, das war und ist und wird immer das Wichtigste bleiben, was wir haben. Wir gehen tagtäglich durch diese Straßen, die sich wie feine Adern durch die oft viel zu großen Städte ziehen, begegnen Menschen, deren Gesichter wir bereits nach ein paar Metern vergessen und ignorieren die Dinge, die die Generationen vor uns als Pflicht und Würde anerkannt haben: die Menschlichkeit in uns. Vorurteile haben uns nach den Vorstellungen unserer Gesellschaft geformt, die Menschen uns nach ihrer Meinung zu recht gebogen. Und was bleibt? Ein Strom aus ausdruckslosen Gesichtern, starren Blicken, die Schauer über unsere Körper und eisige Kälte bis tief in unsere Seelen senden. Würden wir einem Menschen helfen, der vor uns zu Boden fällt, wenn er obdachlos ist, stinkt und schwankt? Würden wir einer Dame, die Kleidung und Parfüm trägt, dessen Preise wir uns nicht einmal erträumen könnten, Geld leihen, wenn sie mal keins hat? Vielleicht, vielleicht sogar mit Sicherheit. Doch was kaum einer von uns bezweifeln kann: Es ist nicht mehr unser Instinkt, es ist nicht mehr unsere Natur, es ist Etwas, wo die meistern erst zögern und nachdenken müssen. Und ist es letztendlich noch Menschlichkeit?

Mittwoch, 23. November 2016

Wir, nur Dreck unter den Fingernägeln.

Das schmatzende Geräusch der schweren Schritte hallt durch den breiten Gang, die schwere Arbeitskleidung hängt an meinen Schultern. Der Helm sitzt lose auf meinem Kopf, Tücher hab ich mir notdürftig in die Hosentasche gestopft. Keiner redet, alle gehen schweigsam über die Stahlplatten, die sich langsam neigen und in einer Sackgasse enden. Durch das Gitter kann ich die dicken Stahlseile erkennen, die den Fahrstuhl hoch und hinunter bewegen, die Räder sind verrostet. Das Metall wird zu Seite gezogen, ein Quietschen ertönt, zieht mir durch Mark und Bein. Der Aufzug füllt sich, die Gesichtsausdrücke der Arbeiter emotionslos, eine Fassade. Sie bereiten sich auf die stickige Luft, das beklemmende Gefühl der Enge vor, dass einen hunderte Meter unter der Erdoberfläche ereilt. Die bodenlose Angst, das letzte Mal das Tageslicht gesehen zu haben, verschwindet nie. Sie ist immer da.
Mit einem Ruck setzt sich der Aufzug in Bewegung, rast hinunter in die Tiefe. Ich kann die einzelnen Schächte verschwommen erkennen,zähle mit, blende alles aus. Es ist unglaublich laut und kalt hier. Die Luft wird dünner, man spürt es, wie sie, feucht und Klamm, sich in deiner Kleidung festsetzt und einen dünnen Schweißfilm auf deiner Haut bildet. Mit einem lauten Knall kommt der Korb zum stehen, das Gitter öffnet sich. Der Stollen besteht noch nicht lange, das erkennt man auf den ersten Blick.
Überall stehen Eimer mit Kohle herum, es gibt keine Elektrizität, aus den Wänden ragen spitze Steine hervor. Stahl, aber übermäßig Holzträger stützen diese Sohle, stehen wacklig auf dem schlammigen Untergrund. Die anderen greifen zu Haken, Spaten, Spitzhacken.  Während wir langsam weitergehen wird der Gang immer niedriger, bis er schließlich abrupt aufhört. Mittlerweile kriechen wir auf Händen und Knien. Ohne ein Wort zu sagen, macht sich die Gruppe an die Arbeit. Der Schweiß rinnt mir den Nacken herunter, ich kann spüren, wie sich der Kohlestaub in meiner Lunge festsetzt, ich bearbeite die Steine vor mir, ohne etwas zu sehen, denn die Lampen spenden kaum Licht. Erst letzte Woche hat sich einer von den anderen die Hand abgeschlagen, der Knochen war zersplittert, die Spitzhacke blieb stecken. Bis man ihn im Schneckentempo den Schacht entlang zum Korb gebracht hatte, war er verblutet. Den Fall hatte man vertuscht, das Ministerium die Zeugen ruhig gestellt und den Angehörigen erzählte man, das man einen Herzinfarkt hatte und zahlte Schmerzensgeld. So lief es nun mal. Die Leute brauchen uns, unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten wir unter Lebensgefahr und enden meistens trotzallem als unbekannte Leiche in einem namenlosen Sarg, da der Körper nach langem Aufenthalt im Wasser bis zur Unkenntlichkeit hin aufquillt. So lief es früher, so läuft es heute.
Die Stunden vergehen, und gegen Mittag läutet eine Glocke, die uns sagt, dass wir Pause machen sollen. Eine reine Notwendigkeit, nichts, dass sie uns aus Güte zusprechen würden.
Es werden Wasserflaschen herumgereicht, in den Gängen der Minen hallt das Gemurmel wieder, vereinzeltes Gelächter ertönt. Meistens zünden sie sich auch eine Zigarette an, bei der schlechten Luft hier ist es sowieso egal. Jeder hier ist sich bewusst, dass er das hohe Alter nicht erreicht, dass nie Falten seine Haut und graue Haare seinen Kopf bedecken. Und stattdessen schweigen sie es tot und versuchen damit klar zu kommen. Sie verkümmern in den Tiefen unter der Erde, wo ihr Lachen niemals an die Oberfläche dringt und ihre Hände niemals sauber sind.
Die Pause ist vorbei, der schlurfende Gang erfüllt die Tunnel, Dreck rieselt uns in die Haare. Der Geruch nach Schweiß wird in den nächsten Stunden zunehmen, die Innere Uhr, die ein jeder von uns hat, tickt. Das Ende rückt näher, die Vorfreude, den beklemmenden Fängen der Erde zu entkommen, steigt, je weiter wir graben. Der Klang unserer Werkzeuge auf Steinen, Klumpen und Sand ist monoton, immer derselbe, im Rythmus. Wir sind ein eingespieltes Team. Wir atmen gleich, ein, und aus.
Was wir heute nicht schaffen, machen wir morgen, und was wir morgen nicht schaffen, machen wir übermorgen. Immer wieder und immer weiter, und graben wir hier fertig, graben wir woanders.
So ist es und so wird es immer sein.
Mein letzter Gedanke, bevor die Schaufel eines Kumpels auf etwas Spitzes trifft, er aufschreit und in Flammen aufgeht, eine riesige Feuerwalze, rot und schwarz und unglaublich heiß, aus dem Rohr tritt, und ich instinktiv die Augen schließe und meinen Kopf Richtung Himmel hebe, ist: Wie lange werde ich heute bloß brauchen, um den Dreck unter den Fingernägeln wegzuschrubben?

Sonntag, 10. Mai 2015

Die Gräber der Arbeiter.

Die Stille ist lauter als alles, was ich je gehört habe. Die Dunkelheit erdrückt mich. Ich drücke mich an die kalten Steine, presse meine Lippen aufeinander und versuche, meinen Atem zu beruhigen. Ich merke, wie mein Körper langsam aufhört zu zittern. Ich schließe meine Augen und versuche, diesen einen, letzten Sonnenstrahl in mein Gedächtnis zu brennen, die Stimmen, die in der Ferne zu hören waren, in Erinnerung zu behalten, für immer. Das Einzige, was ich jetzt höre, ist das angespannte Atmen der anderen, und die dumpfen Schritte auf dem nassen Boden.
Der Schweiß läuft mir nach wie vor die Stirn hinunter und verschwindet in meinem dunklen Bartwuchs.
Auch wenn ich die Augen öffne, kann ich nichts als Dunkelheit erkennen und die ausgehende Wärme der Personen, die neben mir stehen, gibt mir Kraft.
Ich hole noch einmal tief Luft, wische mir mit meiner verdreckten Hand über die Stirn und taste mich vorwärts. Meine Hände streifen Körperteile, Kleidung, Gesichter, und Steine. Ich höre wie sie zusammenzucken, als ich mich an den Arbeitern vorbei schiebe. Ich spüre wie sie die Luft einsaugen, als ich vorbei gehe  und dem schmalen Gang ins Innere der Pyramide folge. 
Die Meisten werden mir nicht folgen, denn sie haben Angst. Die habe ich auch, doch mit dem Unterschied, dass ich nicht nur Angst, sondern auch keine Hoffnung mehr habe. Sie werden hier bleiben und warten, warten auf etwas, was nicht geschehen wird.
Sie haben die Hoffnung, dass man sie doch noch hier rausholen wird, bevor sie verdursten, verhungern, ersticken oder sich selbst verspeisen oder was es sonst noch gibt. Wie dumm sie sind. 
Wie oft haben sie erlebt, dass bedeutende Gräber gebaut worden waren und die Arbeiter nach Fertigstellung dieser mit eingesperrt wurden? 
So oft, und dennoch hoffen sie.
Ich schultere meine Tasche mit den wenigen Habseligkeiten, die mir gestattet waren mitzunehmen. Essen, Wasser, eine Zeichnung meiner Tochter und ein halbes Blatt eine Dattelpalme. Die Erinnerungen, die ich mit in mein Grab nehmen durfte, die Erinnerungen an das Leben mit meiner Familie, das unbeschwerte Leben Draußen. Meine Hoffnung in den Himmel zu kommen.
Ich kann hören wie andere mir folgen, aber es sind wenige, die ebenfalls aufgegeben haben, die vielleicht noch einen Ausgang suchen, von dem sie nichts wussten, aber in Wirklichkeit wissen, und das ist ihnen bewusst, dass es keinen gibt.
 Und wenn diese Kenntnis bis in ihr Unterbewusstsein dringt, wenn diese tiefe Überzeugung, dass sie verloren sind und sich ihr eigenes Grab geschaufelt haben, bis in ihre Seele dringt, dann werden sie sich einen ruhigen Gang oder eine abgelegene Nische suchen. Sich hinlegen, den Sinn des Lebens hinterfragen, die Vorräte verbrauchen und auf den Tod warten, der sie nach ein paar duzend Stunden einholen wird. Das Leben Revue passieren lassen, die schönsten Erinnerungen noch einmal wiederholen, die Gedanken sortieren und beten. Beten, für die, die man liebt, für die, denen man dieses Schicksal ersparen will und letzendlich für die, die in diesem Moment in den feuchten Gängen kauern und warten.
Ich lasse meine Schatten hinter mir und schlängle mich durch das nahezu undurchschaubare Tunnel- und Gangsystem, weiche Fallen aus und Kriechtieren, die sich am Boden eingenistet haben.
Als ich mich am anderen Ende hinter einem kleinen Vorsprung niederlasse, ist mein Körper mit Gänsehaut überzogen und unkontrollierte, leise Schluchzer schütteln mich. Ansonsten höre ich nichts außer das regelmäßige Tropfen, dass links neben meinem Kopf ertönt.
Mein Zeitgefühl habe ich verloren, aber spätestens in ein paar Stunden werden die ersten Schreie ertönen, von denen, die ihren Verstand schon jetzt verlieren.
Nach und nach werden sie verklingen, nach und nach werden sie aufhören zu atmen, ihre Herzen werden aufhören zu schlagen. 
Ich will mir nicht ausmalen, wie schlimm es wäre, der letzte Lebende inmitten dieser toten Meute zu sein. Der letzte zwischen den toten Körpern, alleine.
Ich lehne meinen Kopf and die kühle Wand, schließe die Augen, und denke an das Lachen meiner Frau, den Abschiedskuss meiner Tochter und an das heranwachsende Kind im Bauch seiner Mutter, dass seinen Vater nie kennen lernen wird.