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Sonntag, 10. Mai 2015

Die Gräber der Arbeiter.

Die Stille ist lauter als alles, was ich je gehört habe. Die Dunkelheit erdrückt mich. Ich drücke mich an die kalten Steine, presse meine Lippen aufeinander und versuche, meinen Atem zu beruhigen. Ich merke, wie mein Körper langsam aufhört zu zittern. Ich schließe meine Augen und versuche, diesen einen, letzten Sonnenstrahl in mein Gedächtnis zu brennen, die Stimmen, die in der Ferne zu hören waren, in Erinnerung zu behalten, für immer. Das Einzige, was ich jetzt höre, ist das angespannte Atmen der anderen, und die dumpfen Schritte auf dem nassen Boden.
Der Schweiß läuft mir nach wie vor die Stirn hinunter und verschwindet in meinem dunklen Bartwuchs.
Auch wenn ich die Augen öffne, kann ich nichts als Dunkelheit erkennen und die ausgehende Wärme der Personen, die neben mir stehen, gibt mir Kraft.
Ich hole noch einmal tief Luft, wische mir mit meiner verdreckten Hand über die Stirn und taste mich vorwärts. Meine Hände streifen Körperteile, Kleidung, Gesichter, und Steine. Ich höre wie sie zusammenzucken, als ich mich an den Arbeitern vorbei schiebe. Ich spüre wie sie die Luft einsaugen, als ich vorbei gehe  und dem schmalen Gang ins Innere der Pyramide folge. 
Die Meisten werden mir nicht folgen, denn sie haben Angst. Die habe ich auch, doch mit dem Unterschied, dass ich nicht nur Angst, sondern auch keine Hoffnung mehr habe. Sie werden hier bleiben und warten, warten auf etwas, was nicht geschehen wird.
Sie haben die Hoffnung, dass man sie doch noch hier rausholen wird, bevor sie verdursten, verhungern, ersticken oder sich selbst verspeisen oder was es sonst noch gibt. Wie dumm sie sind. 
Wie oft haben sie erlebt, dass bedeutende Gräber gebaut worden waren und die Arbeiter nach Fertigstellung dieser mit eingesperrt wurden? 
So oft, und dennoch hoffen sie.
Ich schultere meine Tasche mit den wenigen Habseligkeiten, die mir gestattet waren mitzunehmen. Essen, Wasser, eine Zeichnung meiner Tochter und ein halbes Blatt eine Dattelpalme. Die Erinnerungen, die ich mit in mein Grab nehmen durfte, die Erinnerungen an das Leben mit meiner Familie, das unbeschwerte Leben Draußen. Meine Hoffnung in den Himmel zu kommen.
Ich kann hören wie andere mir folgen, aber es sind wenige, die ebenfalls aufgegeben haben, die vielleicht noch einen Ausgang suchen, von dem sie nichts wussten, aber in Wirklichkeit wissen, und das ist ihnen bewusst, dass es keinen gibt.
 Und wenn diese Kenntnis bis in ihr Unterbewusstsein dringt, wenn diese tiefe Überzeugung, dass sie verloren sind und sich ihr eigenes Grab geschaufelt haben, bis in ihre Seele dringt, dann werden sie sich einen ruhigen Gang oder eine abgelegene Nische suchen. Sich hinlegen, den Sinn des Lebens hinterfragen, die Vorräte verbrauchen und auf den Tod warten, der sie nach ein paar duzend Stunden einholen wird. Das Leben Revue passieren lassen, die schönsten Erinnerungen noch einmal wiederholen, die Gedanken sortieren und beten. Beten, für die, die man liebt, für die, denen man dieses Schicksal ersparen will und letzendlich für die, die in diesem Moment in den feuchten Gängen kauern und warten.
Ich lasse meine Schatten hinter mir und schlängle mich durch das nahezu undurchschaubare Tunnel- und Gangsystem, weiche Fallen aus und Kriechtieren, die sich am Boden eingenistet haben.
Als ich mich am anderen Ende hinter einem kleinen Vorsprung niederlasse, ist mein Körper mit Gänsehaut überzogen und unkontrollierte, leise Schluchzer schütteln mich. Ansonsten höre ich nichts außer das regelmäßige Tropfen, dass links neben meinem Kopf ertönt.
Mein Zeitgefühl habe ich verloren, aber spätestens in ein paar Stunden werden die ersten Schreie ertönen, von denen, die ihren Verstand schon jetzt verlieren.
Nach und nach werden sie verklingen, nach und nach werden sie aufhören zu atmen, ihre Herzen werden aufhören zu schlagen. 
Ich will mir nicht ausmalen, wie schlimm es wäre, der letzte Lebende inmitten dieser toten Meute zu sein. Der letzte zwischen den toten Körpern, alleine.
Ich lehne meinen Kopf and die kühle Wand, schließe die Augen, und denke an das Lachen meiner Frau, den Abschiedskuss meiner Tochter und an das heranwachsende Kind im Bauch seiner Mutter, dass seinen Vater nie kennen lernen wird.